Blog

Im Namen des Volkes – Sprachliche Entgleisungen vor Gericht

Sprachliche Entgleisungen vor Gericht

SchrÀge Geschichten aus Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung

In seiner Kolumne „Im Namen des Volkes“ teilt Ralf Sikorski mit unseren Leserinnen und Lesern AuszĂŒge aus der Neuauflage seines gleichnamigen Buches

Ich heiße Ralf Sikorski und Sie herzlich willkommen.

Von sprachlichen Entgleisungen und anderen Unmutsbekenntnissen
Gerichtssendungen im deutschen Fernsehen suggerieren einen völlig falschen Eindruck von mĂŒndlichen Verhandlungen, wie sie tatsĂ€chlich ablaufen. Insbesondere die LautstĂ€rke und QualitĂ€t der Zwischenrufe entsprechen nicht so ganz der Lebenswirklichkeit. Gleichwohl können sich aber auch Zuschauer oder bereits angehörte Zeugen im wirklichen Leben durch UngebĂŒhr auszeichnen. Mehrfaches Lachen oder Zwischenrufe wie „Das stimmt alles nicht!“ können mit einem Ordnungsgeld belegt werden. Eine Zeugenvernehmung hat nĂ€mlich ausschließlich durch das Gericht und durch die anderen Prozessbeteiligten zu erfolgen und ist nicht etwa durch Zurufe oder Unmutsbekundungen aus dem Zuschauerraum zu beeinflussen oder untermalen (so das OLG Oldenburg mit Urteil vom 9.2.2017, 1 Ws 50/17). Und auch ein SachverstĂ€ndiger, der wĂ€hrend der Rede eines Anwalts selbigen einen Vogel zeigt, muss mit dem Zorn des Gerichts rechnen. Das Oberlandesgericht Stuttgart entschied, dass dieser durch die entsprechende Geste seinen Anspruch auf VergĂŒtung verwirkt hat (Beschluss vom 30.7.2014, 8 W 388/13).

Eine bloße sprachliche Unhöflichkeit oder gar eine verbale Entgleisung kann dagegen im Gegensatz zu provokanter Bekleidung nicht in jedem Fall als UngebĂŒhr bewertet werden. Die Äußerung „Mein Gott, wo bin ich hier“, reicht nach Auffassung des Oberlandesgerichts Hamm nicht zur Festsetzung eines Ordnungsgeldes aus (Beschluss vom 17.10.1991, 3 Ws 485/91). Gleiches gilt ĂŒbrigens auch fĂŒr den Richter selbst. So macht ihn die von ihm getĂ€tigte Aussage „Mein Gott, da muss ich aber lachen“ nicht automatisch befangen (BFH, Beschluss vom 10.3.2015, V B 108/14). FreimĂŒtige oder saloppe Äußerungen eines Richters geben jedenfalls dann keinen Anlass zur Besorgnis der Befangenheit, wenn sie sogleich wieder relativiert werden. Evident unsachliche oder unangemessene sowie herabsetzende und beleidigende Äußerungen des Richters können aber die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen, wenn sie den nötigen Abstand zwischen Person und Sache vermissen lassen.
Gerade im Strafverfahren kann es dabei schon einmal sehr emotional werden, da fĂŒr den Angeklagten regelmĂ€ĂŸig viel auf dem Spiel steht, nicht selten sogar seine Freiheit. Zeigt aber ein lautstark und emotional erregter Angeklagter wĂ€hrend der Zeugenvernehmung mehrfach mit „dem nackten Finger“ auf den Richter und die im Sitzungssaal anwesenden Polizisten, ist die Festsetzung eines Ordnungsgeldes angemessen, insbesondere wenn der Angeklagte schon wĂ€hrend der Sitzung in verschiedenen ZusammenhĂ€ngen zur MĂ€ĂŸigung ermahnt worden ist (OLG Hamm, Beschluss vom 6.10.2016, 4 Ws 308/16).

NebensÀtze des Gerichts, die aufhorchen lassen
Das Landgericht Stuttgart hatte die Zahlungsklage eines Kreditinstituts gegen die frĂŒhere Ehefrau des Kreditnehmers abgelehnt, weil es die vertraglich Mitzeichnung der Ehefrau (und damit die Mithaftung) als sittenwidrig ansah. Die Ehefrau hatte keine eigenen EinkĂŒnfte, um die Kreditraten zu bedienen (Urteil vom 12.6.1996, 21 O 519/95). So weit, so unspektakulĂ€r. Aufhorchen ließ aber der folgende Satz aus den EntscheidungsgrĂŒnden: „Die entsprechende Rechtsprechung des BGH ist fĂŒr das Gericht nicht obsolet.“
Der Richter stellte sich mit seiner Entscheidung auf die Seite der geschiedenen Ehefrau und Mutter, die drei Kinder zu versorgen hatte, und einkommens- und vermögenslos war, gegen die aktuelle Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und des Oberlandesgerichts Stuttgart als Berufungsgericht, die eine mögliche Sittenwidrigkeit eines solchen Kreditvertrags ggf. anders gesehen und die Ehefrau in Haftung genommen hĂ€tten. Die AusfĂŒhrungen des zustĂ€ndigen Richters dazu sind aber absolut lesenswert und lösten in der Fachwelt ein sehr unterschiedliches Echo aus: „Beim BGH handelt es sich um ein von Parteibuch-Richtern der gegenwĂ€rtigen Bonner Koalition dominierten Tendenzbetrieb, der als verlĂ€ngerter Arm der Reichen und MĂ€chtigen allzu oft deren Interessen zielfördernd in seine ErwĂ€gungen einstellt und dabei nicht davor zurĂŒckschreckt, Grundrechte zu mißachten, wie kassierende Rechtsprechung des BVerfG belegt. Solche Richter haben fĂŒr ‚kleine Leute‘ und deren, auch psychologische, Lebenswirklichkeiten kein VerstĂ€ndnis, sie sind abgehoben, akademisch sozialblind, in ihrem rechtlichen Denken tendieren sie von vornherein darwinistisch. Durch geschickte Beeinflussung der Gesetzgebungsmaschinerie ist es der zustĂ€ndigen Lobby im Laufe der Jahre gelungen, den frĂŒheren Schutz von Kreditnehmern zunichte zu machen.“
Ich ĂŒberlasse es dem geneigten Leser, selbst darĂŒber zu urteilen, ob dieser Richter eher ein Held oder eher ein Nestbeschmutzer ist.

Bildung ist bewundernswĂŒrdig, aber man sollte sich von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass wirklich Wissenswertes nicht gelehrt werden kann
An diese Lebensweisheit von Oscar Wilde (irischer Schriftsteller 1854-1900) fĂŒhlt man sich unweigerlich erinnert, wenn AusfĂŒhrungen eines Richters erkennen lassen, dass auch Richter nur Menschen sind und ĂŒber entsprechende Lebenserfahrung verfĂŒgen. Formulierungen wie „ist fĂŒr die Kammer auch aufgrund eigener Erkenntnis offenkundig“ zeugen von Weltoffenheit, wenngleich sie sprachlich bedenklich sind. Die hĂ€ufig verwendete Formulierung, dass „die Kammer aufgrund eigener Kenntnis“ mitreden kann, ist mehr als fraglich, denn wie soll ein kĂŒnstlicher Spruchkörper eigene Lebenserfahrungen gesammelt haben? Und manchmal erzĂ€hlen diese Bemerkungen dann auch noch ein wenig zu viel ĂŒber die Lebensgewohnheiten des Richters selbst, wie ein Urteil des Amtsgerichts Hamburg zeigt (Urteil vom 23.3.2006, 49 C 474/05): „Das ‚CafĂ©â€˜ ist zwar im selben Haus wie die Wohnung der Beklagten gelegen. Es verfĂŒgt aber, was gerichtsbekannt ist, ĂŒber einen eigenen separaten Eingang, der gut 10 m vom Hauseingang liegt, der zu den Wohnungen fĂŒhrt.“
Geklagt hatte eine Mieterin aus dem Nachbarhaus gegen ihren Vermieter auf Mietminderung, weil die unmittelbare Nachbarschaft zu einem CafĂ©, das als Treffpunkt der Sado-Maso-Szene dient, beim Betreten des Hauses regelmĂ€ĂŸig Begegnungen mit provokativ-aufreizend und szenetypisch gekleideten CafĂ©besuchern auslöst.

Happy wife, happy life
Nachdem der Bundesgerichtshof in einem ersten Grundsatzurteil die arglistige TĂ€uschung des FahrzeugkĂ€ufers durch den Fahrzeughersteller im sog. Dieselskandal und eine entsprechende Schadenersatzpflicht bestĂ€tigt hatte (Urteil vom 25.5.2020, VI ZR 252/19), konnten die zustĂ€ndigen Landgerichte tausende von anhĂ€ngigen Zivilprozessen abwickeln. Trotz der gebetsmĂŒhlenartigen Behauptung eines großen Fahrzeugherstellers, dem Kunden sei ja gar kein Schaden entstanden, gingen die Gerichte nunmehr ĂŒbereinstimmend davon aus, dass ein kundiger und verstĂ€ndiger KĂ€ufer einen Kaufvertrag ĂŒber ein Auto, bei dessen Zulassung fĂŒr den Straßenverkehr geschummelt wurde, gar nicht erst gekauft hĂ€tte. Bemerkenswert ein Auszug aus der UrteilsbegrĂŒndung des Landgerichts Essen, was davon zeugt, dass auch der zustĂ€ndige Richter ein Privatleben und eine Ehefrau hat: „Der KlĂ€ger hat glaubhaft erklĂ€rt, dass er aus wirtschaftlichen GrĂŒnden damals lieber einen Benziner gekauft hĂ€tte. Seine Frau habe aber ein Dieselfahrzeug vorgezogen, weil es weniger verbraucht und weniger Schadstoffe ausstĂ¶ĂŸt. Seine Frau habe sich dann durchgesetzt. Dies ist glaubhaft.“

Machen Sie Platz, ich bin Anwalt
Das Ansehen, das der Beruf des Anwalts in der Gesellschaft genießt, wird recht unterschiedlich beurteilt. Folgt man den allgemeinen jĂ€hrlichen Veröffentlichungen zur Frage nach dem Ansehen der einzelnen Berufe in der Bevölkerung (z. B. Veröffentlichungen der Bertelsmannstiftung oder der Statista Research Department 2024), findet sich der Rechtsanwalt regelmĂ€ĂŸig im unteren Drittel der Statistik wieder. Folgt man dagegen den AusfĂŒhrungen der Juristen des Amtsgerichts MĂŒnchen, erfĂ€hrt diese Berufsgruppe eine ganz andere WertschĂ€tzung (Urteil vom 23.11.2020, 823 Ls 231 Js 185686/19): „Der Beruf des Rechtsanwalts hat in der Gesellschaft einen besonderen Stellenwert und genießt besonders hohes Vertrauen.“
Dem ist ein Angehöriger dieser Berufsgruppe durch sein Verhalten entschieden entgegengetreten. UnglĂŒcklicherweise liegt eine Postfiliale in der NĂ€he seiner Praxis mitten in der FußgĂ€ngerzone und ist daher mit dem Auto nicht direkt erreichbar. Dies fand er lĂ€stig und ĂŒbertrieben, denn um seine Anwaltspost abzuholen, bedarf es doch schließlich nur weniger Minuten – und seine Zeit ist besonders kostbar, wenn man seine Kostennoten einmal liest. Er fuhr daher mit seinem Wagen durch die FußgĂ€ngerzone bis vor die Postfiliale und holte seine Kanzleipost ab. Er staunte anschließend nicht schlecht, denn eine Mitarbeiterin des zustĂ€ndigen Ordnungsamts klemmte bei seiner RĂŒckkehr gerade ein Knöllchen unter den Scheibenwischer seines Wagens. 30 € sollte der Anwalt fĂŒr das widerrechtliche Befahren einer FußgĂ€ngerzone bezahlen. Und wegen des hohen Streitwerts mussten sich sowohl das Amtsgericht Leverkusen als auch das Oberlandesgericht Köln anschließend mit dem Vorgang beschĂ€ftigen, da der Anwalt sich diesen schweren Ermessensfehler durch die zustĂ€ndigen Behörden nicht bieten lassen wollte. Die Rechtsbeschwerde des Anwalts wurde jedoch abgewiesen, lesen Sie selbst, ob die GrĂŒnde Sie ĂŒberzeugen (OLG Köln, Beschluss vom 2.5.2018, III-1 RBs 113/18): „Befindet sich eine Postfiliale in einem mit Zeichen 242.1 Anl. 2 zu § 41 Abs. 1 StVO als FußgĂ€ngerzone ausgewiesenen Bereich, erlaubt das Zusatzschild ‚Lieferverkehr frei‘ einem Rechtsanwalt nicht das Befahren mit einem Pkw, um Anwaltspost aus dem bei der Postfiliale angemieteten Postfach abzuholen. Die Erledigung postalischer GeschĂ€fte fĂŒr eine Anwaltskanzlei ist nicht unter den Begriff des Lieferverkehrs zu fassen. Der allgemeine Sprachgebrauch versteht unter Lieferverkehr in erster Linie den Transport von Waren und GegenstĂ€nden von und zu Kunden.“
Das Gericht fĂŒhrte weiter dazu aus, dass es schon seinen Grund habe, dass nur in AusnahmefĂ€llen Autos durch die FußgĂ€ngerzone fahren dĂŒrfen, denn ansonsten wĂ€re ein ungestörtes Flanieren fĂŒr SpaziergĂ€nger und EinkĂ€ufer ohne Hupen und Abgasen in FußgĂ€ngerzonen wohl nicht möglich. Nun ja, der ĂŒppige Streitwert löst nur die MindestgebĂŒhr bei Gericht aus und wird wenigstens nicht verzinst.

Ich freue mich, in den nĂ€chsten Wochen weitere Anekdoten mit Ihnen teilen zu können. Und sollte Ihnen der BĂŒroalltag einmal ĂŒber den Kopf wachsen: was halten Sie von einem guten Buch, denn es muss ja nicht immer ein Gesetzbuch sein? „Über den Umgang mit Menschen“ von Adolph Freiherr von Knigge. NatĂŒrlich in der nachgebildeten Originalfassung – Leinen mit GoldprĂ€gung.


Über Ralf Sikorski
Dipl.-Finanzwirt Ralf Sikorski war viele Jahre Dozent an der Fachhochschule fĂŒr Finanzen in Nordrhein-Westfalen mit den Schwerpunkten Umsatzsteuer und Abgabenordnung und anschließend Leiter der BetriebsprĂŒfungsstelle in einem Finanzamt. Seine Dozentenrolle nahm er daneben als Unterrichtender in SteuerberaterlehrgĂ€ngen und BilanzbuchhalterlehrgĂ€ngen wahr, heute ist er noch in zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen tĂ€tig, u. a. in den sog. Bilanzbuchhalter-Updates. DarĂŒber hinaus hat er sich als Autor unzĂ€hliger steuerlicher Lehr- und PraktikerbĂŒcher insbesondere zu den o. g. Fachbereichen und Herausgeber eines Kommentars zur Abgabenordnung einen Namen gemacht. Seine StilblĂŒtensammlungen „Meine Frau ist eine außergewöhnliche Belastung“, „Wo bitte kann ich meinen Mann absetzen“, „Ich war Hals ĂŒber Kopf erleichtert“ und ganz aktuell „Im Namen des Volkes“ sowie das MĂ€rchenbuch „Von Steuereyntreibern und anderen Blutsaugern“ runden sein vielfĂ€ltiges TĂ€tigkeitsbild ab.

Hinweis:
Die Illustration stammt von Philipp Heinisch, der seine Anwaltsrobe 1990 an den Nagel hÀngte und Zeichner, Maler und Karikaturist wurde (www.kunstundjustiz.de).

Kontakt
Wir sind fĂŒr Sie da

Haben Sie nicht etwas vergessen?

Kein Problem! Wir haben Ihren Warenkorb fĂŒr Sie gespeichert!
Nur noch ein paar Klicks und schon kommen Sie Ihrem Weiterbildungsziel ein StĂŒck nĂ€her.
 
Sind Sie sich noch unsicher oder benötigen Beratung? Zögern Sie nicht uns zu kontaktieren! Wir beraten Sie gern und klÀren alle offenen Fragen.

Nichts mehr verpassen!

Angebote, regelmĂ€ĂŸige Infos und Tipps zum Thema Weiterbildung & Karriere  - Bleiben Sie mit unserem Newsletter immer auf dem Laufenden. Jetzt anmelden!