In seiner Kolumne „Im Namen des Volkes“ teilt Ralf Sikorski mit unseren Leserinnen und Lesern Auszüge aus der Neuauflage seines gleichnamigen Buches
Ich heiĂźe Ralf Sikorski und Sie herzlich willkommen.
Herzlich willkommen zu einem satirischen Streifzug durch den alltäglichen Wahnsinn unseres Rechtssystems, über die unerträgliche Sprache von Gesetzen, die komplizierte Sprache bei und das angemessene Verhalten vor Gericht und natürlich über die Sinnhaftigkeit mancher Streitigkeiten vor Gericht.
Loriot, einer der größten Humoristen aller Zeiten, hat seine besten Ideen dadurch gesammelt, dass er den Menschen einfach im Alltag zugeschaut hat. Ein Ehepaar beim Frühstück, ein Ehepaar beim Bettenkauf oder eine Familie am Heiligabend – so etwas kann man sich nicht ausdenken.
Und so ähnlich ist das auch mit den Anekdoten, die ich Ihnen erzählen will. Als passionierter Stilblütensammler habe ich – inspiriert durch die legendäre Regelungswut der Deutschen – die Flut von Gesetzen, Verordnungen, Verwaltungsanweisungen und Urteilen nach Kuriositäten durchforstet. Wir versuchen alles durch ein Gesetz zu regeln, was sich regeln lässt, niemand vermag mehr die Anzahl unserer Gesetze zu zählen. Die Unmengen an Verwaltungsanweisungen zur Interpretation der Gesetze zieht zwangsläufig wiederum eine Flut von Rechtsstreitigkeiten vor den Gerichten nach sich. Denn auch die Klagefreudigkeit der Deutschen ist unübertroffen. Und wenn ein Gesetz dann nicht im Sinne der Macher des Gesetzes ausfällt und vom Gericht gerügt wird, wird das Gesetz eben wieder geändert. So nährt sich das System selbst.
Die institutionelle Reformunfähigkeit der Deutschen
Wenn man einmal die zuständigen Finanzbeamten, die Steuerberater vor Ort, die Buchhalter der Betriebe oder die betroffenen Unternehmer selbst zum leidigen Thema Steuerrecht befragt, wird man erfahren, dass all diese Menschen sich nichts sehnlicher wünschen als eine Steuervereinfachung, auch, um ihre diesbezügliche Arbeitszeit wieder sinnvoller und effektiver einsetzen zu können. Aber was wissen diese Menschen schon von der Gesetzgebung – und was wissen die Betroffenen schon darüber, was gut für sie ist. Und so ist das in allen Rechtsgebieten unseres Landes - Bildung, Renten, Soziales. Aber allein im politischen Berlin gibt es inzwischen rund 6 000 Interessensverbände. Und die Vertreter dieser Verbände wissen gemeinsam mit Politikern und den Beteiligten der Ministerialbürokratie viel besser, was gut für uns ist. Deswegen werden Jahr für Jahr Gesetze geschaffen, die kein Mensch braucht, die kein Mensch will, die große Unternehmen reicher machen oder Dinge regeln, von denen wir bislang gar nicht wussten, dass ein Regelungsbedarf besteht.
Das am 5.1.1938 (!) in Kraft getretene „Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ (das sog. Namensänderungsgesetz) ist auch heute immer noch gültig, wenngleich sein Regelungsgehalt heute naturgemäß ein ganz anderer ist. Aber es war bis zum 9.3.2023 sprachlich noch immer so gefasst, als wäre das Deutsche Reich ein nach wie vor existierender Staat, denn Paragraph 1 des Namensänderungsgesetzes lautete tatsächlich bis dahin: „Der Familienname eines deutschen Staatsangehörigen oder eines Staatenlosen, der seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Deutschen Reich hat, kann auf Antrag geändert werden.“ Und inhaltlich wurden ernsthaft im Gesetz selbst Begriffe wie „Reichsregierung“ oder „Reichsminister des Inneren“ verwendet. Obwohl das Namensänderungsgesetz in der Vergangenheit mehrfach überarbeitet worden ist, wurden die genannten Bezeichnungen bis dahin nicht durch aktuelle Begrifflichkeiten der Bundesrepublik Deutschland ersetzt. Es erfüllt mich mit Stolz, dass das Erscheinen meines Buches im Herbst 2020 nebst einer Augenzwinkernden Schenkung eines Exemplars an den Deutschen Bundestag mit einem Hinweis auf mein damaliges Vorwort zu dieser sprachlichen Korrektur mit 72-jähriger Verspätung beigetragen hat. Bereits am 26.1.2021 legten die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD einen Gesetzentwurf zur Änderung des Namensänderungsgesetzes vor, der auch kurz darauf vom Bundestag verabschiedet und am 26.3.2021 im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde (BGBl 2021 I Seite 738).
Echte Gesetze, unglaubliche Urteile
Die Gesetze, die ich hier anspreche, aber insbesondere die mannigfaltigen Gerichtsurteile, auf die ich eingehen möchte, die gibt es alle wirklich – auch wenn man das kaum glauben mag. Jedes Urteil eine Stilblüte ganz eigener Art, bei denen der Richter mit spitzer Feder und feinem Humor Stellung nimmt. Urteile in Reimform, Urteile die vor Sarkasmus triefen oder gar Urteile, die unser Rechtssystem ganz offen kritisieren - so etwas kann man sich nicht ausdenken.
Meine Kolumne soll Ihnen unnützes Wissen unseres Berufsstandes näherbringen, und ist auch für den interessierten Laien absolut lesenswert. So ist das Urteil des Amtsgerichts Mönchengladbach zur Frage, ob zwei Einzelbetten anstelle eines Doppelbettes im Urlaubsort einen Reisemangel wegen Störung der Schlaf- und Beischlafgewohnheiten darstellen, auch ohne große Kommentare unübertroffen (AG Mönchengladbach vom 25.4.1991, 5a C 106/91).
Schlafende Richter?
Die Idee zu einem entsprechenden Buch „Im Namen des Volkes“, das Grundlage für diese Kolumnen ist, hatte ich beim zufälligen Lesen eines Urteils des Bundesfinanzhofs zu einem angeblich während der mündlichen Verhandlung eingeschlafenen Richter las. Meine Neugier war geweckt, erst recht, nachdem die Eingabe „Schlafender Richter“ in die Suchmaske „Juris“ 68 Treffer erzeugte. Wer sind diese Kläger, die einen hoch angesehenen Berufsstand derart diffamieren, nur weil sie im Prozess unterlegen waren? Aber glücklicherweise klären uns die übergeordneten Gerichte anschließend auf: ein Richter, der in der mündlichen Verhandlung die Augen schließt, schläft nicht – er folgt nur hochkonzentriert dem Sachvortrag (BFH vom 17.5.1999, VIII R 17/99):
„Das Schließen der Augen über weite Strecken der Verhandlung und mit einer in sich zusammengesunkenen Haltung beweist allein nicht, daß der Richter schläft. Denn diese Haltung kann auch zur geistigen Entspannung oder zwecks besonderer Konzentration eingenommen werden.“
Und sollte er dabei tatsächlich einmal Geräusche erzeugen, so ist dies dem sog. Sekundenschlaf zu verdanken, in dem man hochkonzentriert mit geschlossenen Augen dann auch einmal fallen kann (BFH vom 20.9.2000, VII R 61/00; BFH vom 2.2.2005, VIII B 191/03):
„Vielmehr läßt die vom Kläger ebenfalls mitgeteilte Beobachtung, daß der Kopf immer wieder nach oben geschnellt ist, darauf schließen, daß es sich allenfalls um einen Sekundenschlaf gehandelt haben kann, der die geistige Aufnahme des wesentlichen Inhalts der Beweisanträge nicht beeinträchtigt haben kann. Eine sich daran anschließende langsame Bewegung des Kopfes nach hinten ist kein ausreichendes Indiz dafür, dass der Richter geschlafen hat oder sonst geistig abwesend war.“
Und ich weiß jetzt gerade nicht, wofür ich mich mehr schäme: über den eingeschlafenen Richter oder über das vorgesetzte Gericht, das ein solches unmögliches Verhalten auch noch deckt.
Ich freue mich, in den nächsten Wochen auch weitere Anekdoten mit Ihnen teilen zu können. Und nur zur Abrundung: Der Spruch in der Überschrift stammt von Publius Cornelius Tacitus, römischer Historiker und Senator (58-120 n. Chr.), der seiner Zeit offenbar weit voraus war und unser schräges Rechtssystem noch gar nicht kannte.
Ăśber Ralf Sikorski
Dipl.-Finanzwirt Ralf Sikorski war viele Jahre Dozent an der Fachhochschule für Finanzen in Nordrhein-Westfalen mit den Schwerpunkten Umsatzsteuer und Abgabenordnung und anschließend Leiter der Betriebsprüfungsstelle in einem Finanzamt. Seine Dozentenrolle nahm er daneben als Unterrichtender in Steuerberaterlehrgängen und Bilanzbuchhalterlehrgängen wahr, heute ist er noch in zahlreichen Fortbildungsveranstaltungen tätig, u. a. in den sog. Bilanzbuchhalter-Updates. Darüber hinaus hat er sich als Autor unzähliger steuerlicher Lehr- und Praktikerbücher insbesondere zu den o. g. Fachbereichen und Herausgeber eines Kommentars zur Abgabenordnung einen Namen gemacht. Seine Stilblütensammlungen „Meine Frau ist eine außergewöhnliche Belastung“, „Wo bitte kann ich meinen Mann absetzen“, „Ich war Hals über Kopf erleichtert“ und ganz aktuell „Im Namen des Volkes“ sowie das Märchenbuch „Von Steuereyntreibern und anderen Blutsaugern“ runden sein vielfältiges Tätigkeitsbild ab.
Hinweis:
Die Illustration stammt von Philipp Heinisch, der seine Anwaltsrobe 1990 an den Nagel hängte und Zeichner, Maler und Karikaturist wurde (www.kunstundjustiz.de).